„Das 21. Jahrhundert“Der neue Essayband von Diedrich Diederichsen ist keine leichte Kost

Lesezeit 4 Minuten
25.04.2024, Köln, Sancta Clara Keller: Diedrich Diederichsen bei einer Lesung

Diedrich Diederichsen bei seiner Lesung in Köln

Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen stellt im Sancta-Clara-Keller Köln seinen neuen Essayband „Das 21. Jahrhundert“ vor. 

Im Kopf lässt Diedrich Diederichsen das Alphabet ablaufen, die Zuschauer dürfen nach Lust und Laune „Stopp“ sagen, diesmal landen wir beim „P“. Diederichsen schlägt das Register seiner aktuellen Veröffentlichung „Das 21. Jahrhundert“ auf und startet: „Camille Paglia“. Es geht weiter unter anderem über Nam June Paik, Olof Palme, Jack Palance, Parker — Charlie, aber auch Sarah Jessica — , Arvo Pärt und Blaise Pascal bis Pier Paolo Pasolini.

Dann ruft wieder jemand „Stopp“. Pasolini wird an vier Stellen in dem Band erwähnt, der Autor wählt Seite 280 aus: Die Rezension eines Films über den Barden Scott Walker unter der Überschrift: „Der Stürzende“, erschienen 2008 im Artforum. Angeregt hat das neckische Spiel Helge Malchow, von 2002 bis 2018 Verlagsleiter bei Kiepenheuer & Witsch, heute Moderator des Abends im Sancta Clara Keller.

Anspruchsvolle Analysen

Er habe noch nie erlebt, sagt Malchow, dass so viele Namen „aus ganz unterschiedlichen Wirklichkeitsbereichen“ wie Musik, Religion, Philosophie, Literatur, Theater, Politik, Soziologie oder Geschichte in einem einzigen Register versammelt sind. Auf rund 1100 Seiten sind 173 Essays, Vorträge, Aufsätze und Rezensionen abgedruckt, allesamt verfasst seit 2000.

Kulturtheoretiker Diederichsen lebte von 1985 bis 1999 in Köln und machte sich einen Namen als Redakteur des Magazins „Spex“, das in Deutschland erstmals Pop-Musik anspruchsvoll analysierte und kritisch begleitete. Seit 2006 lehrt er als Professor für Theorie, Praxis und Vermittlung von Gegenwartskunst an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Und konzentriert sich eher auf Theater und Künste — auch weil Pop heute stark abgeschlafft wirkt.

Scott Walker aber hatte seine große Zeit in den 60er Jahren. Diederichsen beschreibt dessen Songwriter-Ästhetik treffend als „ein jäher, aber lang andauernder und tiefer Sturz aus den Sicherheiten der Songform, dennoch dieser verpflichtet. Ein jäher, aber lang andauernder Sturz auch aus den Sicherheiten der subjektiven Existenz.“

Ähnlich einleuchtend die Beschreibung von Christoph Schlingensief in einem anderen, nach dem Alphabet-Verfahren gefundenen Text: Der habe die „Verfransung der Künste“, dass sich also „künstlerisches Handeln nicht mehr vom expertenhaften Gebrauch eines bestimmten, oft traditionsreichen Mediums herleiten lassen kann, nicht nur thematisiert, sondern im Zentrum seines Selbstverständnisses verankert.“

Wenn Diederichsen selbst einen Text auswählt, wird's problematisch. Etwa der Vortrag über Thomas Pynchons unsterbliche (Leucht-) Birne Byron, in dem er Heidegger und Hölderlin gegen die Kybernetik in Stellung bringt. Oder er denkt „die Kritik der gewissermaßen gouvernementalen Verwaltungs- und Regierungskybernetik im Hoch- und Spätfordismus der 1940er- bis 1980er-Jahre mit der algorithmischen und ökonomischen Kybernetik von Daten- und Digitalkapitalismus in der neoliberalen Epoche“ zusammen. Häh?

Bei solchen schon zu „Spex“-Zeiten berüchtigten, „unlesbaren“ Texten Diederichsens sehnt man ein energisches Eingreifen Malchows herbei. Der allerdings begnügt sich im Wesentlichen mit dem — verständlichen — Bestaunen eines Bewusstseins, das so viele Daten, Ereignisse, Texte und Theorien abspeichern kann.

Wissen würde der Zuhörer aber gern, ob der Autor, der im Buch nach eigener Aussage „Materialien“ für das noch junge Jahrhundert – daher der Titel – versammelt hat und im Vorwort ausführlich vor den „para-faschistischen Komponenten“ einer neuen Weltordnung warnt, noch auf den Widerstandsgeist der Kultur setzt. Die hat er, vereinfacht gesagt, stets auf ihren Beitrag zur Emanzipation etwa von sozialen Klassen, ethnischen Gruppen oder sexuellen Minderheiten hin abgeklopft.

Ein dezidiert linkes Projekt, an dem Diederichsen festhält, das zeigen viele der meist lesenswerten, oft bissig-polemischen Texte in diesem Band, den man tatsächlich am besten über die „Register-Methode“ erschließt. Schön auch, dass Diederichsens Begeisterungsfähigkeit intakt geblieben ist, etwa wenn er über den Song „Dirt“ in einem Stooges-Konzert schreibt, der sei „nicht nur so ziemlich das Größte, was Menschen je geschaffen haben, sondern viel, viel mehr“.

Das mag ein wenig übertrieben klingen – aber im Kontext eines gelungenen Rock-Konzerts ist es natürlich die Wahrheit.

Diedrich Diederichsen: Das 21. Jahrhundert. Essays, Kiepenheuer & Witsch, 1136 S., 58 Euro

Rundschau abonnieren