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Ratgeber MedizinModedroge Vitamin D – zwischen Modedroge und Hoffnungsträger

Lesezeit 6 Minuten
Vitamin D

Nur zu wenig oder schon ein Mangel? Viele Menschen in Deutschland bekommen nicht genug Vitamin D.

Vitamin D gehört derzeit zu den großen Hoffnungsträgern der Medizin. Es soll nicht nur Knochenschwund stoppen, sondern auch vor Krebs, Diabetes und Depressionen schützen. Doch diese Hoffnungen sind stark übertrieben – und stattdessen kommt es immer öfter zu Vergiftungen.

Er wollte der Osteoporose vorbeugen und seinem Immunsystem einen Anschub geben. Also besorgte sich Bernd (Name geändert) aus dem Internet ein hoch dosiertes Vitamin-D-Präparat, um sich täglich eine Extra-Ration dieses Naturstoffs zu gönnen. Doch von der „Rundum-Wellness“, die ihm der Anbieter des Produkts versprochen hatte, spürte er nichts. Als erstes verschwand sein Appetit, dann die Lust auf Sex; stattdessen stellten sich Kopfweh, Schwindel und Muskelschwäche ein. Es dauerte lange, bis die Ärzte dahinter kamen, dass sich Bernd mit Vitamin D vergiftet hatte. Sie versuchten noch per Cortison, seine Nieren zu retten. Doch deren Verkalkung war schon zu weit fortgeschritten. Bernd ist heute ein Dialyse-Patient.

Der 60-Jährige gehört neben einer 78-jährigen Frau zu den Fallberichten, die jetzt von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft vorgelegt wurden, um im Zusammenhang mit Vitamin D vor gefährlichen Überdosierungen zu warnen. Denn die eigentlich zu den Hormonen zählende Substanz ist, wie es der für das Arzneimittelverzeichnis „Gelbe Liste“ arbeitende Christian Kretschmer ausdrückt, „zu einer Modedroge“ geworden, die New York Times spricht sogar von einer „neuen Religion“.

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Auch Bluttests liegen im Trend

Neben Vitamin-D-Präparaten boomen auch die Labortests zur Ermittlung des persönlichen Vitamin-D-Status. 2010 führten die Ärzte noch eine Million solcher, auf einer Blutuntersuchung basierenden Tests pro Jahr durch, mittlerweile sind es rund sieben Millionen. Sie werden von den gesetzlichen Krankenkassen in der Regel nur übernommen, wenn konkrete Hinweise auf ein Vitamin-D-Defizit vorliegen. Wer sich den Weg zur Praxis sparen will, kann sich für 30 Euro einen Test für zu Hause besorgen. Dabei existieren bisher keine einheitlichen Vorgaben, ab welchen Werten eigentlich ein Mangel vorliegt.

„Möchte man den Meldungen im Internet glauben, hat fast jeder Mensch ein Vitamin-D-Defizit und es gibt kaum ein Organsystem, das nicht positiv auf Vitamin D anspricht“, so Kretschmer. Und diese Botschaften kommen an. Allein in Deutschland wandern über sieben Millionen rezeptfreie Packungen jährlich über den Apothekentresen, die Zahl der ärztlichen Verschreibungen ist auf rund vier Millionen gestiegen. Hinzu kommen unzählige Produkte aus dem Internet. In Neuseeland und den USA konsumiert bereits jeder zweite Über-50-Jährige Vitamin D in Pillen-, Tabletten- oder Pulverform.

Eine Folge, nicht Ursache von Erkrankungen

Dabei bringen sie, wie aktuelle Studien belegen, selbst in angemessener Dosierung nur wenig Positives für die Gesundheit. So weiß man schon länger, dass es die Aufnahme von Calcium und Phosphaten und damit die Festigkeit der Knochensubstanz reguliert. Darüber hinaus werden ihm aber auch vorbeugende und therapeutische Effekte bei Asthma, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, multipler Sklerose sowie Demenz und Depressionen nachgesagt. Diese Hoffnungen ruhen vor allem auf der Beobachtung, dass Vitamin-D-Rezeptoren an vielen Organen des Körpers zu finden sind. Außerdem gehen viele Erkrankungen Hand in Hand mit erniedrigten Vitamin-D-Spiegeln im Blut. Doch die könnten, wie Endokrinologe Helmut Schatz von der Ruhr-Universität Bochum betont, „eine Folge und nicht die Ursache der Erkrankung sein“.

So zehren gerade Diabetes und Krebserkrankungen an den Vitaminressourcen, was aber nicht zwangsläufig bedeutet, dass es nutzt, wenn man diese Ressourcen wieder aufrüstet. Ein Loch im Eimer schließt sich ja auch nicht, indem man immer wieder Wasser nachfüllt. Am Internationalen Institut für Präventionsforschung in Lyon fand man bei einer Analyse der wissenschaftlichen Daten keine Hinweise darauf, dass eine tägliche Vitamin-D-Zufuhr von zehn bis 20 Mikrogramm (400 – 800 IE) einen Einfluss auf nicht-skelettale Erkrankungen wie Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder Depressionen hätte. Allenfalls Asthma und akute Atemwegsinfekte scheinen positiv darauf zu reagieren, und auch die Krebssterblichkeit geht geringfügig zurück. Doch das reicht nicht, um Vitamin D als Schutz gegen diese Krankheiten empfehlen zu können.

Die Dosis macht das Gift

So beobachtete ein Forscherteam der Universität Uppsala an knapp 1200 Männern, dass zwar diejenigen mit den geringsten Vitamin-D-Spiegeln im Blut ein um 50 Prozent erhöhtes Krebstodrisiko hatten – doch für diejenigen mit den höchsten Vitamin-D-Werten galt genau das gleiche. „Aus Studien mit Mäusen ist schon länger bekannt, dass hoch dosiertes Vitamin D das Tumorwachstum und Altern beschleunigen kann“, so Studienleiter Karl Michaëlsson. Die Dosis macht eben das Gift.

Womit ein Kardinalproblem von Vitamin D angesprochen ist: Die Dosis. Nicht nur, dass es als fettlösliche, mit dem Urin unausscheidbare Substanz zum Gift wird, wenn man es in großen Mengen verzehrt. Bis heute ist auch nicht geklärt, wann eigentlich ein Mangel vorliegt, den man behandeln muss, um das Skelett – dem „klassischen“ Einsatzort des Vitamins – vor Knochenschwund zu schützen. Einige Experten und Gremien verorten diesen Bereich unterhalb von 30 Nanogramm pro Milliliter Blut, andere unter 20 und das Robert-Koch-Institut (RKI) sogar erst unter zehn bis 12,5 Nanogramm. Die Stiftung Warentest hat diese Werte zum Ausgangspunkt genommen, um anhand von RKI-Daten auszurechnen, wie viele Menschen hierzulande unter Vitamin-D-Mangel leiden. Das Ergebnis: Bei den Erwachsenen sind es gerade mal zwei, bei den Kindern und Jugendlichen vier Prozent. In den Werbeaussagen für Vitamin-D-Präparate, aber auch in den Statements einiger Ärzte ist jedoch von bis zu 80 Prozent die Rede.

Begründet werden diese Zahlen gerne damit, dass der Mensch zwar Vitamin D selbst herstellen könnte, doch dass dies aufgrund seiner urbanen, sonnenlichtfernen Lebensweise viel zu kurz käme. Tatsache ist freilich, dass die Evolution wohl kaum zugelassen hätte, die Versorgung mit einem so wichtigen Stoff auf Gedeih und Verderb von der aktuellen Sonnenstrahlung abhängig zu machen. Vielmehr verfügt der Körper mit Fett, Muskeln und Leber über effektive Vitamin-D-Speicher, die durch sonnenarme Zeiten helfen.

Bei den Bewohnern im subarktischen Schweden fand man einen ähnlich hohen Vitamin-D-Level wie im südlichen Skandinavien. Selbst nach drei Monaten in fast durchgehender Düsternis litten sie keinen Mangel – und die Zeiten, als man im hohen Norden noch überwiegend Vitamin-D-reiche Schweinswale und Tümmler auf dem Teller hatte, sind lange vorbei.

Es besteht also kein zwingender Grund, die Bevölkerung flächendeckend mit Vitamin-D-Präparaten nachzurüsten. Ihr Einsatz sei, wie Helmut Schatz betont, lediglich bei Neugeborenen zum Schutz vor Rachitis, bei Knochenerweichung als Folge von Darmerkrankungen, bei chronischen Nierenleiden und bei Nebenschilddrüsenschwäche sowie bei Osteoporose ratsam. Der Endokrinologe warnt: „Alle anderen Begründungen für eine Vitamin-D-Einnahme sind, abgesehen von Risikogruppen wie etwa verschleierten Frauen, spekulativ.“

Das beste Mittel gegen Knochenschwund scheint – laut einer Studie der University of Missouri – ohnehin ein Kraft- und Sprungtraining von zwei bis drei Mal pro Woche zu sein. Wobei die US-Forscher betonen, dass dabei keine besonders hohen oder langen Hüpfer verlangt werden. Der größte Sprung bestünde vielmehr darin, dass man über seinen eigenen Schatten springen muss, um mit dem Training anzufangen.

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