Rundschau-Debatte des TagesSind die Grünen wirklich an allem schuld?

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„Für jeden Missstand muss es eine einfache Ursache geben“: Aufgebrachte Landwirte protestieren mit verfremdeten Wahlplakaten beim politischen Aschermittwoch der Grünen in Biberach. Kurz darauf eskaliert die Lage vor der Halle, die Veranstaltung wird abgesagt.

„Für jeden Missstand muss es eine einfache Ursache geben“: Aufgebrachte Landwirte protestieren mit verfremdeten Wahlplakaten beim politischen Aschermittwoch der Grünen in Biberach. Kurz darauf eskaliert die Lage vor der Halle, die Veranstaltung wird abgesagt.

Die Unzufriedenheit mit der Bundesregierung ist groß, aber keiner der drei Ampel-Partner erlebt so viel offenen Hass wie die Ökopartei. Vizekanzler Habeck und Co. holt jetzt möglicherweise ihr eigener Anspruch ein, sagen Experten.

Die Blockade der Urlaubsfähre von Wirtschaftsminister Robert Habeck – unter anderem durch wütende Landwirte – war nur der Anfang. Seither wurde auch Grünen-Co-Parteichefin Ricarda Land bei mehreren öffentlichen Auftritten physisch bedrängt. Der politische Aschermittwoch der Grünen im baden-württembergischen Biberach wurde wegen Sicherheitsbedenken gleich ganz abgesagt.

Auch Wahlkreisbüros der Partei werden angegriffen und beschmiert.   Die Grünen bereiten sich angesichts dessen auf dieses Wahljahr – mit den drei heiklen Landtagswahlen in Ostdeutschland – inzwischen anders vor als in anderen Jahren. Es soll Schulungen für Mitglieder geben. Deeskalation am Wahlwerbestand, das ist jetzt ein großes Thema.

Die Ausschreitungen haben eine neue Qualität, sie sind aber nur die Spitze des Eisbergs. Die sozialen Medien sind voll von Unmutsbekundungen über die Grünen, in denen sie mal mehr, mal weniger direkt für Wirtschaftsflaute und Migrationskrise verantwortlich gemacht werden. Für viele sind sie gerade an allem schuld, was nicht gut läuft im Land.

Leben in der sozialen Blase

„Für jeden Missstand muss es eine einfache Ursache geben. Und das sind jetzt die Grünen“, stellte der Politikwissenschaftler Frank Brettschneider von der Uni Hohenheim bei „Focus online“ fest. Die Wut auf die Klimapartei sei vor allem bei Menschen festzustellen, „die nicht nur politisch, sondern auch kulturell am weitesten von den Grünen entfernt sind“.

Kürzlich förderte eine Studie einen interessanten Befund zutage. Ein Bericht des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) zeigte, dass sowohl AfD- als auch Grünen-Anhänger am stärksten von allen politischen Gruppen in sozialen Blasen leben. Sie haben also am wenigsten Kontakt mit Leuten, die anders leben und ticken als sie selbst – und polarisieren demnach auch am stärksten. AfD-Politiker mobilisieren ihre Anhänger mit Attacken gegen die Grünen besonders erfolgreich – und umgekehrt.

Angriffsfeld Wirtschaftspolitik

Grünen-Kritik verfängt aber nicht nur bei der AfD, sondern auch in weiten Teilen der Mitte der Gesellschaft. Die Verwirrung um Robert Habecks geplante Gasumlage, die dann abgeblasen wurde, das Heizungsgesetz, das nach Monaten des Streits entschärft wurde, und der endgültige Atomausstieg im April vergangenen Jahres haben das Vertrauen in die Grünen vor allem in einem Feld beschädigt, das derzeit als besonders wichtig wahrgenommen wird: die Wirtschaftspolitik.

„Wirtschaftspolitische Expertise gehörte bislang nicht zu den Schwerpunktsetzungen des Selbstverständnisses der Grünen“, sagt der Parteienforscher Uwe Jun von der Universität Trier. Auch jetzt gelte: „Die zugeschriebene Wirtschaftskompetenz ist gering.“ Und das trotz des ersten grünen Bundeswirtschaftsministers. Oder gerade deswegen?

Die Empörung ist jedes Mal besonders groß, wenn Habeck nicht so genau weiß, was eine Insolvenz bedeutet, oder Lang in einer Talkshow nicht sagen kann, wie hoch die durchschnittliche Rente ausfällt. Dass Habeck in der Energiekrise höchst pragmatisch handelte, Flüssiggas in aller Welt einkaufte und Kohlekraftwerke anschmiss, spielt im Gesamturteil keine Rolle.

Stadt-Land-Konflikt vertieft die Kluft

Einzelne Fehltritte fallen bei den Grünen besonders ins Gewicht, weil sie als Beleg dafür herhalten können, die Welt nur aus der abgehobenen eigenen Lebenswirklichkeit zu betrachten. „Die Grünen sind die Partei der großstädtischen Akademiker, wozu unter anderem auch nicht wenige Journalisten zu zählen sind“, meint Parteienforscher Jun.

Die Polarisierung ist demnach auch Ausdruck eines Stadt-Land-Konflikts, der sich vor den Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen in diesem Jahr weiter zuspitzen könnte. Mit den Grünen wird offenbar in Verbindung gebracht, dass sich möglichst vieles ändern muss, dass der Status quo nicht gut ist – und dass es besser gehen könnte.

„In der idealen Welt der Grünen würden die Menschen sich gesünder ernähren, weniger Fleisch essen und sich politisch korrekter verhalten“, erklärt Jun. Der Parteienforscher räumt aber auch ein: „Sehr viele Grüne sind ja Realisten. Sie wissen, dass sie als 15-Prozent-Partei nicht alles durchsetzen können.“

Zu viel Moral, zu wenig Pragmatismus?

Auch beim großen Streitthema Migration sehen die Experten die Grünen derzeit in der Defensive. „Die Grünen sind neben der Linken die Partei, die sich am meisten für Migranten einsetzt und am wenigsten für die Begrenzung von Zuwanderung“, analysiert Jun. Hinzu kommt hier ein Problem der Eigen- und der Fremdwahrnehmung. Während die Grünen aus ihrer Sicht mit ihrer Politik „Humanität und Ordnung“ verbinden und bei den gesetzlichen Änderungen nach ihrem Empfinden schon über die Schmerzgrenze hinaus Verschärfungen mitgemacht haben, werden sie von der Opposition weiter besonders hart als Ausbremser einer Begrenzung der Migration attackiert.

Auch angesichts dessen halten die pragmatischen Grünen im Südwesten den harten Gegenwind, der ihrer Partei derzeit entgegenbläst, für hausgemacht. „Wir sprechen zu moralisch über Politik“, räumte der grüne Finanzminister von Baden-Württemberg, Danyal Bayaz, in der „FAZ“ ein. „Das triggert viele Menschen.“

Wenig Selbstkritik in der Spitze

Weit verbreitet scheint diese Einsicht in der Partei allerdings nicht zu sein. Führende Grünen-Politiker in Berlin verweisen auf stabile Umfragewerte und steigende Mitgliederzahlen. Immerhin, als einzige Ampel-Partei liegt man mit 13 Prozent in den Umfragen nicht weit entfernt vom Wahlergebnis von 2021 (14,7 Prozent). Das kann, wer will, auch als Bestätigung der eigenen Politik verstehen. Ricarda Lang stellt jedenfalls immer wieder fest, dass man sie besser erklären und den Menschen „ein emotionales Angebot“ machen müsste. Nach tiefschürfender Selbstkritik klingt das nicht.

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